Zweiter Weltkrieg vor 75 Jahren in Friedrichshafen
Unter dem Begriff ausländische Arbeitskräfte werden zunächst freiwillige Arbeitskräfte auswärtiger Staaten zusammengefasst, die zum Teil schon vor dem Krieg als Erntehelfer oder Eisenbahn-Arbeiter, meist in Saisonarbeit, Arbeit gefunden hatten. Für den Zweiten Weltkrieg sind jedoch in erster Linie Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion (Ostarbeiter) und Polen gemeint, Westarbeiter (aus Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg), Kriegsgefangene (vor allem aus der Sowjetunion und Italien) sowie Zwangsarbeiter aus weiteren von Deutschland besetzten nord-, ost- und südosteuropäischen Ländern. Mit Zunahme des Kriegverlaufs wurden sie gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, um in Friedrichshafen und Umgebung kriegswichtige Tätigkeiten zu verrichten, für welche sie weder ausgebildet waren noch für welche sie einen angemessenen Lohn erhielten.
Gemäß Erlass der französischen Militärverwaltung vom 1. März 1946 mussten in der Nachkriegszeit alle Firmen und Betriebe in Friedrichshafen Listen über die während des Zweiten Weltkriegs eingesetzten Zwangsarbeiter erstellen. Mit Hilfe dieser Firmenlisten und anderer offiziellen Angaben kann man sich der Gesamtzahl der während des Zweiten Weltkriegs in Friedrichshafen arbeitenden Ausländer nähern, ohne sie wohl je exakt erfassen zu können. So nennen die verschiedenen Listen eine ungefähre Anzahl von knapp 12.000 ausländischen Arbeitskräften und Kriegsgefangenen für das damalige Stadtgebiet. Annäherungsweise ist für das damalige Stadtgebiet von einer Gesamtzahl von 14.000 bis 15.000 ausländischer Arbeitskräfte auszugehen, die zeitweilig oder dauernd während des Zweiten Weltkriegs in Friedrichshafen arbeiten mussten. Diese hohe Anzahl an Zwangsarbeitern, ausländischen Arbeitskräften und KZ-Häftlingen ist im wesentlichen der hier ansässigen Kriegs- und Rüstungsindustrie geschuldet und setzt sich aus mindestens 28 Nationen zusammen, die gemäß der rassistischen Kriterien des NS-Staates auch unterschiedlich behandelt wurden. Den weitaus größten Anteil mit weit über 5.000 Zwangsarbeitern bildeten vor allem die verschiedenen Nationalitäten der Sowjetunion, allen voran Russen, Ukrainer und Weißrussen. Mit Abstand folgen dann v.a. ab 1943 militärinternierte Italiener (IMI), Franzosen und Niederländer. Es kommen hinzu: Die in der Landwirtschaft beschäftigten Zwangsarbeiter, die für die Zeppelin-Industrie eingesetzten 300 Zwangsarbeiter in Hohenems („Glauconit“-Werk der ZF) und eine unbekannte Anzahl (A4-Prüfstände des LZ bei Oberraderach) und einzelne zwangsarisierte Familien (z.B. Polen auf dem Riedlehof). Rechnet man die ausländischen Arbeitskräfte heute eingemeindeter Ortsteile hinzu, so erhöht sich die oben genannte Zahl nochmals um über 1.000. So waren beispielsweise in Ailingen 556 Zwangsarbeiter und 186 Kriegsgefangene, in Ettenkirch 168 ausländische Arbeitskräfte gemeldet, die überwiegend in der Landwirtschaft eingesetzt wurden. Ferner kommen die hier geborenen Kinder von Zwangsarbeitern hinzu.
Besondere militärische Projekte wie die Produktion von Halbschalen der A4-Rakete sowie die Verlagerung der Friedrichshafener Industrie gegen Ende des Krieges zogen nicht nur weitere zahlreiche Zwangsarbeiter nach sich, sondern führten vermehrt zu Arbeitseinsätzen von Häftlingen v.a. aus dem Konzentrationslager Dachau. Abgesondert vom ohnehin inhumanen Zwangsarbeiter-System waren die KZ-Häftlinge, die zwar wie Zwangsarbeiter in (allerdings mit Stacheldraht umzäunten) Baracken übernachten mussten, jedoch keinen Lohn oder eine annähernd annehmbare Verpflegung bekamen, aufgrund politischer, rassischer und sozialer Gründe von den Nazis zur „Vernichtung durch Arbeit“ ausersehen. Aus dem von der SS und weiteren Nazi-Organisationen brutal geführten KZ-System haben Luftschiffbau Zeppelin und die Dornier-Werke für kriegswichtige Projekte Häftlinge angefordert: Friedrichshafen (1.206 Häftlinge aus dem KZ Dachau), Oberraderach, Überlingen-Aufkirch (800, über 220 Tote bzw. Ermordete), bis nach Germering (280), München-Neuaubing (500) und Passau (340 Häftlinge aus dem KZ Mauthausen).
Für die Undurchlässigkeit und Unbarmherzigkeit der deutschen Zwangsarbeiter- und Konzentrationslager bürgt der Fall Levie Barbier. Der aus Den Haag stammende Niederländer hatte eine jüdische Mutter; dieser Umstand war den Behörden jedoch nicht bekannt. So wie viele andere Landsleute wurde Levie Barbier am 4. Juni 1942 zur Arbeit in der deutschen Rüstungsindustrie, genauer zur Zahnradfabrik nach Friedrichshafen, zwangsverpflichtet. Der aufsässige wie mutige 20-Jährige schrieb im Februar 1943 in einer ZF-Werkhalle die Graffiti „Weg met Hitler“, „Lang leve Holland“, „Oranje Boven“ und weitere Anti-Nazi-Sprüche („Deutschland soll nicht unser Vaterland werden“), und versah diese mit einer Hitler-Karikatur sowie einem Galgen mit aufgeknüpftem Hakenkreuz. Von ZF-Aufsehern entdeckt, wurde er sofort nach Berlin überstellt und dort vom Volksgerichtshof wegen „Hochverrats gegen die nationalsozialistische Regierung“ zum Tode verurteilt. Levie Barbier wurde vom 7. auf den 8. September 1943, in einer der „Blutnächte“ von Plötzensee, mit weiteren 185 Strafgefangenen durch den Strang hingerichtet (Text: Jürgen Oellers, Leiter Stadtarchiv)