Wir kommen an unsere Grenzen
Liebe Bürgerinnen und Bürger,
bundesweit wurden Ende Oktober mehr als 267.000 Asylanträge gezählt, hinzu kommen mehr als eine Million Geflüchtete aus der Ukraine. Auf Friedrichshafen heruntergebrochen heißt das: Wir haben aktuell mehr als 1.250 Menschen in Wohnungen und Unterkünften untergebracht, davon etwa die Hälfte Ukrainerinnen und Ukrainer, die andere Hälfte Geflüchtete aus anderen Ländern. Das klingt nach viel – und das ist es auch.
Die schnell wachsende Zahl der Geflüchteten, die von Städten und Gemeinden untergebracht werden müssen, bringt diese längst an ihre Grenzen. Auch die Stadt Friedrichshafen. Landkreise, Städte und Gemeinden sowie ihre Verbände haben deshalb anlässlich des Bund-Länder-Kompromisses in den vergangenen Tagen und Wochen Hilferufe an Bund und Länder geschickt.
Dabei geht es nicht nur um die enorme Herausforderung, für die Geflüchteten Wohnraum zu finden – den es praktisch nicht mehr gibt. Wer selbst eine Wohnung sucht, weiß um die Nöte am Wohnungsmarkt. Hinzu kommt: Jede größere Unterkunft schürt in der Nachbarschaft Ängste, Sorgen und Unbehagen, bringt öffentliche, oft lautstarke Diskussionen mit sich. Zuletzt hat der Landkreis angekündigt, in Ailingen-Berg eine Unterkunft für 24 geflüchtete Minderjährige schaffen zu wollen. Auch das führt zu Diskussionen, die wir vor Ort sehen und die wir ernst nehmen müssen.
Die Unterbringung allein ist also schon eine enorme Herausforderung, aber die Integration ist es auch: Zur Integration zählt die Betreuung der Geflüchteten, die von Nachbarinnen und Nachbarn, von den Menschen vor Ort zu Recht eingefordert wird. Dazu zählen aber auch Kita- und Schulplätze, Integrationskurse und die Aufgabe, die Menschen möglichst rasch in Arbeit zu bringen. Auch hier kommen wir an unsere Grenzen, wenn wir sie nicht schon überschritten haben. Die Kapazitäten vor Ort sind in allen Bereichen erschöpft.
Was tun? Einfach keine Geflüchteten mehr in Friedrichshafen aufnehmen? Diese Wahl haben die Städte und Gemeinden nicht. Wir können vor Ort nicht entscheiden, ob wir Geflüchtete unterbringen – wir sind gesetzlich verpflichtet, Geflüchtete unterzubringen. Die Stellschrauben liegen allein bei Bund und Ländern. Leider haben Städte und Gemeinden keinen direkten Einfluss auf die Gesetzgebung, müssen aber die Folgen der Gesetzgebung in vollem Umfang tragen. Ob und wie sie das hinbekommen, bleibt den Handelnden vor Ort überlassen.
Lösungswege sollte der Bund-Länder-Kompromiss im November bringen – aber nicht nur ich bewerte die Beschlüsse skeptisch: Bis die Maßnahmen wirklich greifen, wird es dauern – und vieles bleibt wieder an den Kommunen hängen.
Ob es tatsächlich gelingt, die Dauer der Asylverfahren deutlich zu kürzen und abgelehnte Asylsuchende konsequent und schneller auszuweisen? Ob nun weniger Menschen ohne Aussicht auf Asyl kommen? Das wage ich zu bezweifeln. Immerhin: Die Finanzierung der Unterbringung wurde umgestellt von einer Pauschale auf ein Pro-Kopf-System. Das bringt wenigstens finanzielle Entlastung. Die anderen Probleme, die Herkulesaufgaben vor Ort, werden damit nicht gelöst.
In dieser Lage bleibt uns Städten und Gemeinden nur weiter darauf zu drängen, dass der Bund alles daransetzt, insgesamt die Zahl der Geflüchteten zu reduzieren – zum Wohl der Gesellschaft, des Gemeinwesens und um Integration überhaupt noch möglich zu machen. Denn Demokratien funktionieren nur mit dem Rückhalt vor Ort, in den Städten und Gemeinden.
Mit nachdenklichen Grüßen
Ihr
Andreas Brand
Oberbürgermeister